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“Wer profitiert - Schweiz oder EU?"

Prof. Dr. Mathias Binswanger
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Wirtschaft
EU
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Wie stark profitiert die EU wirtschaftlich von der Schweiz? Eine Analyse von Arbeitskräften, Handelsbilanz und Geldflüssen.

Oft hören wir: „Die Schweiz ist auf die EU mehr angewiesen, als diese auf die Schweiz. Denn 60 Prozent ihrer Exporte wickelt sie mit der EU ab. Und ihren wirtschaftlichen Erfolg hat sie auch der Verzahnung mit der EU zu verdanken.“ Die Schlussfolgerung, die dann gezogen wird, lautet: wir müssen froh sein, wenn wir bei Verhandlungen mit der EU ein paar Zugeständnisse bekommen und dürfen diese nicht verärgern, denn wir sitzen am kürzeren Hebel. So denkt heute auch eine Mehrheit der Schweizer Politik.

Eine Reihe von Zahlen zeigen aber auf, wie stark die EU von der Schweiz profitiert. Als erstes profitiert die EU von der Schweiz über die Arbeitsplätze, welche diese für Grenzgänger zur Ver-fügung stellt. Die Zahl dieser Grenzgänger überschritt im Jahr 2024 erstmals die Zahl von 400'000. So viele Menschen kommen also jeden Arbeitstag über die Grenze und verdienen in der Schweiz gutes Geld, um es dann in Deutschland, Frankreich, Italien oder Österreich auszu-geben. Die Zahl steigt von Jahr zu Jahr und im Jahr 2024 flossen auf diese Weise netto Arbeits-einkommen in die EU in der Höhe von 32 Milliarden CHF. Der Begriff „netto“ bezieht sich darauf, dass es auch wenige Schweizer gibt, die jeden Tag als Grenzgänger in der EU arbeiten. Deren Einkommen von etwa 3 Mrd. pro Jahr wurde deshalb von den Arbeitseinkommen der Grenzgän-ger aus der EU abgezogen.

Dank den Grenzgängern fliessen somit über 30 Milliarden CHF pro Jahr netto in die EU. Doch das sind längst nicht die einzigen Nettogeldflüsse in die EU, welche die Schweiz mit ihrer grenz-überschreitenden wirtschaftlichen Tätigkeit bewirkt. Schauen wir die Handelsbilanz an, also Ex-porte und Importe von Waren, dann machte die Schweiz 2024 mit der EU ein Defizit von etwa 13 Milliarden CHF und im Jahr 2023 lag dieses Defizit sogar bei 20 Milliarden. Ganz ähnlich präsentiert sich die Bilanz bei den Dienstleistungen. Dort hat die Schweiz ein noch grösseres Defizit mit der EU als bei der Handelsbilanz. Allerdings gibt es abenteuerliche Diskrepanzen in den verschiedenen Statistiken zum Dienstleistungshandel. Statistiken von Eurostat und der Schweiz zeigen ganz unterschiedliche Zahlen. Wenn wir einmal davon ausgehen, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt, dann dürfte dieses Defizit zwischen 30 und 40 Mrd. CHF betragen.

Insgesamt kommen wir somit auf einen Betrag von etwa 80 Mrd. CHF, der jährlich als zusätzli-ches Einkommen von der Schweiz in die EU fliesst. Das ist eine stolze Summe, die fast 10 Pro-zent des BIP der Schweiz ausmacht. Natürlich kann man argumentieren, dass auch die Schweiz davon profitiert. Wir bekommen günstigere Arbeitskräfte aus den umliegenden Ländern und die Schweiz profitiert insgesamt vom Handel mit anderen Ländern. Das ist richtig. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass die Schweiz für die EU eine Wohlstandsquelle darstellt, aus der Jahr für Jahr netto beträchtliche Einkommen sprudeln.

Angesichts dieser Tatsachen kann man zu Recht in Frage stellen, ob die Formulierung von Bun-desrat Beat Jans tatsächlich zutrifft, der letztes Jahr sagte: „Niemand profitiert mehr vom EU-Binnenmarkt als die Schweiz». Genauso gut könnte man formulieren: Niemand profitiert mehr von der Schweizer Wirtschaft als die EU. Es dürfte deshalb kaum im Interesse der EU liegen, diese Wohlstandsquelle versiegen zu lassen.